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Liebe Kunstfreunde,

Ich werde Ihnen erzählen, warum Jürgen Meyer seine Rückkehr nach Kempten als Glücksfall wertet. Und ich werde Ihnen versuchen klar zu legen, warum Jürgen ein künstlerischer Glücksfall für Kempten ist.


Jürgen Meyer hat zwar in der Einladung neben meinen Namen den Titel Süddeutsche Zeitung geschrieben. Aber unsere Freundschaft hat mit meinem Beruf wenig zu tun. Ich war eher sein „kurzzeitiger Ex-Galerist“: Denn 1989 hat Jürgen in meiner Galerie, einer 300 Quadratmeter großen Halle aus der Jugendstilzeit in Dachau, ausgestellt. Er steht in einer Reihe mit Künstlern wie Herbert Achternbusch, Heinz Braun, Vlado Kristl, Urs Lüthy oder Roman Signer. Dieses Namedropping ließe sich noch fortsetzen. Rückblickend betrachtet zählt Jürgens Ausstellung zu denjenigen, die sich mir und meinen Freunden des ehemaligen KunstBetriebs und der jetzigen Neuen Galerie der Stadt Dachau nachhaltig eingeprägt haben. Ich darf, weil wir im Allgäu sind, auch noch den Memminger Maler Wolfgang Marschner erwähnen. Das waren wirklich gute Ausstellungen.

Insofern erstaunt es seine Freunde in Dachau und München, wenn Jürgen seinen Wegzug nach Kempten hartnäckig als Glücksfall bezeichnet. Aus Dachau, wo er ein anerkannter Künstler ist. Aus München, wo er in der Nachfolge von Hans Seitz den Ruf auf eine der begehrtesten deutschen Dozentenstellen für Kunstpädagogik annahm. Der Begriff Schule der Phantasie, der in Nachfolge der Kunst von Dubuffet über Asger Jorn und auch der Gruppe Spur den Eigenwert kindlicher Ausdrucksformen zu einem neuen pädagogischen Programm ausformuliert hat, ist ihnen allen sicherlich geläufig.

Dass Jürgen Meyer Kempten als Glücksfall versteht, mag ja menschlich gesehen noch angehen. Seine Tochter Birgitt lebt hier mit ihrem Mann Norbert und zwei Kindern, sie haben sich hier eine wohlriechende und wohlschmeckende Existenz mit dem Café Roma aufgebaut. Dass sich er und seine Frau Ernie samt neuem Hund in der neuen Wohnung und in der Nähe zu den Kindern und Enkelkindern wohl fühlen, ist ja auch o.K.. Kann man einsehen. Hat schon was.

Aber künstlerisch gesehen? - Sicher, es ist im Ballungsraum schwierig bis unmöglich, noch einen Atelierraum zu ergattern. Sie müssen sich vorstellen, dass im Dachauer Gewerbegebiet für eine leer stehende etwa 200 Quadratmeter große Einkaufsfläche zurzeit 13000 Euro monatlich zu zahlen sind. Und dann kommt man in dieses Atelier mitten im Kempten gelegen, das noch die Atmosphäre einer Druckerei mit Bleisatz, Hoch- und Tiefdruck atmet.

Da schweigt der Dachauer/Münchner Freund. Menschlich, gesellschaftlich, finanziell betrachtet, ist der Wegzug ein Glücksfall. Aber künstlerisch?

Ja, sagt Jürgen, auch künstlerisch. Wie bitte, fragt man zurück? Dieses Jahr ist Jürgen erstmals in seiner fast 40-jährigen Arbeit als Künstler ausjuriert geworden und durfte nicht in der Residenz ausstellen. Was ist daran ein Glücksfall, frage ich Sie?

Nun ist Jürgen ein Mensch der hartnäckigen Art, der Kontinuität, den so leicht nichts umwirft. Aber Jürgen sagt, die neuen Lebensumstände, das Atelier, das Allgäuer Umfeld, die Berge, der Kemptener Wald, „ich glaub, ich stehe davor, künstlerisch zu explodieren“.

Liebe Kunstfreunde, ich mag Atelierausstellung sehr gerne, weil der Arbeitsprozess sichtbar wird. Weil man sehen und spüren kann, welche Weg ein Künstler einschlägt. Bei Jürgen dürfen sie stöbern, die Schubladen öffnen, Blätter herausziehe, drehen und wenden.

Tatsächlich experimentiert er mit einer zeichnerisch zu nennenden Linienführung der Farbe, wie sie in den mythologischen Bildern zu sehen ist. Tatsächlich setzt er sich mit Rothko auseinandersetzt, um die Schwebekraft von Farbe, deren Leuchtkraft zur erfassen und für sich neu zu bestimmen. Und er experimentiert, hier schließt sich der Kreis zu meinen Bemerkungen über die Dachauer Ausstellung, wieder mit Eisenchlorid. Jürgen nimmt in Kempten eine Malweise auf, die er in Dachau vor fast 20 Jahren zu einem ersten künstlerischen Höhepunkt gebracht hatte.

Jürgen Meyer schafft eine Bilderwelt aus Kleinigkeiten. Er malt eine Art Hund, ein Haus, ein Gitter, eine geschwungene Linie, annähernd geometrische Formen. Seine Bilder sind Rätsel, weil nicht klar ist, was genau sie darstellen. Jedes Sehen ist deswegen ein Benennen. In ihrer Einfachheit entfalten sich diese Bilder zu Assoziationsräumen. Diesen Effekt steigert er durch eine Art Petersburger Hängung. Alle Bilder zusammen ergeben ein einziges großes. Seine Kunst ist enigmatisch.
Jürgen Meyer malt zeichnend und verwendet nur eine Farbe. Das Motiv ist im Gegensatz zu unserem durch die Renaissance und Axialgeometrie geschultem Auge bereits die Komposition. Die Farbe hat keinen Bezugspunkt außerhalb von sich selbst. Jürgen Meyer erfüllt die Kriterien der monochromen Kunst. Seine Bilder sind eine konsequente Fortsetzung auch der Farbfeldmalerei. Und das im Gestus einer nicht nur scheinbar, sondern anscheinend kindlichen anmutenden Malerei.
In diesen Bildern verbinden ich die biographischen Schnittlinien des Malers und Pädagogen, der die Entwicklung des Kindes vor allem die Phase des sinnunterlegten Kritzelns genau studiert hat, also diejenigen Phase die vor aller Bedeutung zu neuen Bedeutungen hinführt. Das wirklich neu und spannend.

Aber wie soll man diese Bilder nun anschauen? Der Begriff abstrakt als Reduktion von Formen aus das Wesentliche greift nicht. Der Begriff konkret, der dem Bild eine selbstbezogene zuspricht, auch nicht, ebenso wenig wie gegenständlich oder nicht gegenständlich. Jürgens Ansatz und Ziel ist die Intensität des Augenblicks, die Aktivierung des Bildraums, wie sie nur die Malerei schaffen kann.

„Und einmal waren wir auch“, schreibt Paul Celan in seinem Meridian, „vor der den Dingen und der Kreatur gewidmeten Aufmerksamkeit her, in die Nähe eines Offenen und Freien gelangt.“ Für diese Freisetzung fallen Celan nur Farbworte. Marcel Proust lässt den Schriftsteller Bergottes sagen: „Ich hätte meine Sprache so kostbar machen sollen wie diese kleine gelbe Mauerstück es ist.“

Jürgen Meyer spricht von seiner Kunst als einem Schutzraum. Bitte verstehen Sie diesen Hinweis nicht psychologisch, existentialistisch oder womöglich esoterisch. Die Kunst selbst ist der Schutzraum, dieses Atelier ist der Schutzraum für ein Malen und Sehen, welche das Ureigne der Kunst bewahrt, in der nichts abgebildet wird, nichts dargestellt wird, sondern in Erscheinung tritt. Die Kunst als Schutzraum gegen ein durch die modernen Technik vorgefertigtes Sehen.
Wie also soll man Jürgens Bilder anschauen? Schalten Sie ihren Kopf aus, lassen Sie diese Bilder auf sich wirken, denken Sie nicht so viel, stöbern sie. Trauen Sie sich, im Sehen Kind zu sein. Ich verspreche Ihnen, irgendwann zuhause, auf der Autofahrt oder mitten im Gespräch tauchen diese Bilder wieder und füllen sich mit Deutung auf. Deswegen ist Jürgen Meyer auch ein Glücksfall für Kempten.
Eigentlich wäre ich jetzt fertig, aber Jürgen und ich möchten noch an einen Künstler erinnern, den ich persönlich nicht kennengelernt habe, dessen Radierungen der Allgäuer Berge und Landschaften ganz wunderbar sind. Jürgen war der Schüler von Hans Dittmann am Gymnasium in Kempten. Was für Jürgen gilt, gilt auch für seinen Lehrer. Er hat nie die Berge, Bäume und kleinen intimen Landschaftsauschnitte abgezeichnet, er hat ihre Erscheinung festgehalten. Er war ein ebenfalls ein Meister der Intensität.

Wolfgang Eitler



Jürgen Meyer - Maler | Atelier: Wartenseestraße 6, 87435 Kempten