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"Bestandsaufnahme #4"
Jürgen Meyer - Rückseiten des Lebens

Ausstellung: 12.–27.10.2019, Do/Fr: 14–18 Uhr, Sa/So: 12–18 Uhr​
Kunsthalle Kempten, Memminger Str. 5

Wenn ein Künstler altert, altern seine Werke dann mit? Oder wird es in jedem Augenblick der Wahrnehmung gar neu geboren? Ihre vermutlich größte inhaltliche Legitimation haben Kunstwerke im Moment ihrer Entstehung, wenn Thema, Künstler, Werk und Zeit eine homogene Einheit bilden. Manche dürfen über die Jahre eine zeitlose Aura entwickeln, manche sogar eine prophetische Kraft entfalten, manche werden zu philosophischen Klassikern, wortkarg komprimiert auf das Wesentliche. Sie „setzen nicht Staub, sondern Patina an“, wie der Kurator Francesco Bonami klug erkannte.[1]
 
Die Frage nach dem Altern erzeugt bei der Auseinandersetzung mit Jürgen Meyers Œuvre einen mehrschichtigen Deutungsraum. Sein Werkkomplex umfasst Arbeiten mehrerer Jahrzehnte, wobei in seinen Zeichnungen der Zeitpunkt der Entstehung oftmals nur am Datum der Signatur erkennbar ist. Die formale Homogenität ganzer Werkgruppen erweckt den Eindruck, dass das gestalterische Ringen vorab wie ein Sturm möglicher Motive im Inneren des Künstlers getobt hat, um sich anschließend in einer Vielzahl von Werken zu beweisen und am eigenen Anspruch abzuarbeiten. Ob Berge, karge Schutzräume, gebeugte Körper oder einfach nur zerzitterte Zeichen, viele der Bilder wirken wie erschöpfte Rückblicke eines demütigen Siegers über die Wirren durchlebter Zeit. Festgehalten. Durchgehalten.
 
Die in den Werken eingefangene Erkenntnis will dabei keine philosophischen Prognosen zum Zustand der Welt formulieren. Sie wirkt mehr wie ein Blick auf die Rückseiten lebensbegleitender und -beschreibender Dokumente im Aktenorder der eigenen Einschnitte, mit deren Umblättern die Unumkehrbarkeit des eigenen Schicksals Seite für Seite angenommen wird. Die Thematik der Unumkehrbarkeit doppelt Jürgen Meyer in seinen Tapetenbildern, indem er die grau-beige Rückseite bunter Tapetenmuster als Malgrund nutzt. Die originale Farbigkeit blitzt manchmal noch an den Rändern dieser Werke durch, die ihre reduziert-kargen Geschichten weitgehend in leuchtend-braunen Rosttönen erzählen. Personen, Beziehungen und Raumkonstrukte sind in den Bildern aber nicht zeitlich eingefroren. Sie können auch formal keinen Staub ansetzen, denn sie verrosten buchstäblich. Tag für Tag fressen sie der alternden nostalgischen Tapete auf der Rückseite ihre Substanz weg und zerstören somit ihren eigenen Lebenskörper. So schön sie gerade jetzt im Herbst ihres Daseins aussehen mögen, die Bilder altern – und irgendwann sterben sie auch.
 
Kunstwerke leben immer zwei Leben. Eines bemisst sich nach dem Künstler und den umgebenden Momenten während seiner Entstehung. Das zweite beginnt in jedem von uns Betrachtern und den uns umgebenden Momenten beim Betrachten. Das erste macht das Werk zur Kunst. Das zweite gibt ihm Qualität.
 
Wir sind es, die den Zauber der Kunst erzeugen, durch das Wesen, das wir um sie machen.[2]
 
Christian Hof, Infograf

[1] Grayson Perry „So geht Kunst“, Seite 36
[2] Peter Bürger „Das Altern der Moderne“, Seite 198


Tag der offenen Vernissage: Sa, 20.10.2021, 10-16 Uhr

 

Zeitungsartikel mit freundlicher Genehmigung der Allgäuer Zeitung (AZ) und des Kreisboten (KB)

[21.10.20, KB] Rückseiten des Lebens
[22.10.20, Extra] Jürgen Meyer zeigt Rückseiten des Lebens
[23.10.20, AZ] Jürgen Meyer macht Bestandsaufnahme
[28.10.20, KB] Bestandsaufnahme #4 - Rückseiten des Lebens

Jürgen Meyer - Maler | Atelier: Wartenseestraße 6, 87435 Kempten